Heiß war es bei den Wanderungen ins Solinger Weinsbergtal! Geschmückt mit einer Krone aus klebendem Labkraut – versehentlich auch schon mal „laberndes Klebkraut“ oder auch „lebendes Klabkraut“ genannt – wanderten jeweils 20 Kinder und vier Kräuter- und Lesehexen durch Wald, Wiese und Gebüsch. Gleich zu Beginn musste das „Indianerpflaster“ schnellstens gefunden werden, hatten sich doch die ersten Kinder schon an der Brennnessel verbrannt, weil ihnen das beherzte Zupacken nicht auf Anhieb gelang. Das Einsammeln der Blüten des Johanniskrautes, das so gut gegen traurige Gefühle hilft und die Finger beim Zerreiben rot färbt, hatten die Jungs hingegen gleich verpasst: Für sie war die Wanderung schon deshalb großartig, weil sie mit einem Stock das wuchernde Gebüsch niedermachen durften.
Jede spontane Entdeckung in der Natur, wie z.B. der umgestürzte Riesenlaubbaum mit Wurzelwerk, wurde sofort in das in das Wanderprogramm integriert: Die anschließende Kletteraktion hätte auch als Tagesaktion gelten können. Als die Kinder aber die Füße zur Erfrischung in den kalten Gluckerbach halten sollten, mussten das die „Oberhexen“ erstmal vormachen. Und weil alle Kinder dann mucksmäuschenstill wurden, kamen doch tatsächlich zwei neugierige Schafe ganz nah heran! Mit einem fröhlichen Zaubertanz auf der Wiese – Musik und rhythmische Geräusche wurden selbst gemacht – endeten die beiden vergnüglichen Lesewanderungen der Biologischen Station Mittlere Wupper in Kooperation mit der Solinger Kinderbibliothek. „Und welche Geschichte hat Euch am besten gefallen?“ Die Antwort war einhellig: „Das Märchen vom Marienkind!“
Die Verbindung von Literatur und Natur basierte auf einer losen Verabredung des Geschäftsführers der Solinger Biologischen Station mit der Direktorin der Stadtbibliothek, frei nach dem Motto: „Wir machen mal was zusammen!“
„Lesen im Gebüsch“ war lange Zeit ein Arbeitstitel, der aufgrund seiner Griffigkeit bei der Realisation erhalten blieb. Eine grundschulerprobte Biologin und „Kräuterhexe“ traf dabei auf das kreative Leseförderungsteam der Solinger Stadtbibliothek, das das Vorlesen von Geschichten an ungewöhnlichen Orten immer wieder neu inszeniert.
Hintergrund
Das Bergische Land hat viel „Gegend“, und man ist schnell im grünen Gebüsch. Solingen ist eine kleine Großstadt mit ca. 160.000 Einwohnern und einer historisch begründeten dezentralen Struktur. Das Thema „Familie“ rückt hier gerade in den politischen Fokus. Die meisten Kinder sind als klassische „Stadtkinder“ zu bezeichnen und kennen sich in der Natur wenig aus. Das erkennt man unter anderem daran, dass sie alle schwarzen Vögel, z. B. das verhältnismäßig kleine Amselmännchen, als „Raben“ bezeichnen und jede gelbe Blume sofort zur „Butterblume“ machen. Dies scheint kein Einzelphänomen zu sein: Zur Zeit erscheinen viele Bücher genau zu diesem Thema. Drei Titel seien beispielhaft genannt:
1. Herbert Österreicher / Edeltraud Prokop: „Kinder wollen draußen sein“ (Kallmeyer 2006).
2. Joseph Cornell: „Mit Cornell die Natur erleben“ (Verlag an der Ruhr, 2006).
3. Andrea Erkert: „Raus in den Wald“ (Herder, 2006).
Planung
Im ersten Planungsschritt muss der Zielort der literarischen Wanderung festgelegt werden, da die Natur die literarische Gestaltung definiert. Nach kurzer Zeit war klar: Wir wandern zum Bauern Lang! Der ist kinderlieb, hat 180 Schafe und einen klugen Hund, eine riesige Wiese mit Murmelbach und zur Not auch eine Scheune, die uns bei Regen trocken hält.
Bei der Zielgruppenbestimmung einigten wir uns schnell auf jeweils 20 Grundschulkinder.
Dauer der Ferienaktion: Vier bis sechs Stunden.
Wichtig: Verkleidung der Protagonistinnen als Lese- oder Kräuterhexen und Erfindung von fantastischen Namen: „Pia Piperita“ als Kräuterhexe und „Cleo Knolle“ als Lesehexe.
Anfahrt mit dem Bus (Fahrkarten für alle vorher besorgen).
Eintrittspreis: 4 € mit, 6 € ohne Bibliotheksausweis.
Treffpunkt: Kinderbibliothek.
Verpflegung und Getränke sollen die Kinder mitbringen.
Konkrete Vorbereitung und Umsetzung
Ca. zwei Wochen vorher musste der Wanderweg probeweise begangen werden, damit der jahreszeitliche Zustand der Flora und des Gebüschs in die Planung einfließen konnte. Dabei ergaben sich folgende Stationen:
1. Zu Beginn der Wanderung auf dem Weg: „Verkleidung“ mit klebendem Labkraut und Schminken der Kinder (Spinnen und Spinnennetze).
2. Auf der ersten Wiese: Vorlesen des Bilderbuches „Da ist eine wunderschöne Wiese“ von Wolf Harranth und Winfried Opgenoorth.
3. Am Wegesrand: Johanniskrautblüten einsammeln, Indianerpflaster pflücken (Spitz- und Breitwegerich) und Kleeblüten mitnehmen.
4. Der Brennnesseltest!
5. Bei der hohlen Eiche mitten im Wald: Picknick mit dem Märchen: „Marienkind“ (Grimm).
6. Ankunft beim Bauern: Limonade aus „HoBlüSi“ (=Holunderblütensirup) brauen und trinken und ein Hexenmärchen vorlesen.
7. Auf der Schafswiese: Schön leise sein und die Schafe herankommen lassen.
8. Am Bach: Füße kühlen und dabei das Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“ (Grimm) lesen.
9. Im Schatten des großen Baumes und zum Abschluss: Zaubertanz mit eigenem Gesang und Gerassel.
Die 180 Schafe haben manchmal ein bisschen seltsam geguckt und sind einmal im Galopp davongerannt.
Die Kinder fanden „Lesen im Gebüsch“ toll. Im nächsten Sommer suchen wir uns ein neues „literarisches Gebüsch“!
Idee:
Pia Kambergs (Biologische Station Mittlere Wupper) und
Claudia Elsner-Overberg (Stadtbibliothek Solingen)
Kontakt: c.elsner-overberg@solingen.de
Kurzinterview mit Claudia Elsner-Overberg
1) Was verstehen Sie unter dem Begriff der Nachhaltigkeit?
Nachhaltigkeit heißt für mich, etwas dauerhaft und für die Zukunft zu erhalten, es wieder zu finden oder zu erarbeiten. Das können Erinnerungen sein, Erlebnisse oder auch Dinge und Erscheinungsformen in der direkten Umwelt, die ich für die Zukunft nicht verlieren will. Kindern von heute ist schon so viel verloren gegangen: auf Bäume klettern, in die Matsche fallen, durch raschelnde Blätterhaufen schlurfen oder beim Kaulquappen-Fangen die von Mama geliehene Salatschleuder verlieren… Solche Abenteuer meiner Kindheit sind für Kinder von heute nicht mehr ohne Aufwand in der elterlichen Organisation erlebbar – sie müssen inszeniert werden.
2) Wie fördert Ihre Institution/Ihr Projekt Nachhaltigkeit?
Eine Bibliothek ist eigentlich von sich aus eine nachhaltige Einrichtung. Wir beschaffen Medien jeder Art, suchen bewusst aus, halten sie zur Benutzung vor und bewahren sie auf. Nicht nur zu dem Zeitpunkt, an dem die Medien nicht mehr zu kaufen sind, kommen dann die Menschen in die Bibliotheken, um sich hier das gesammelte Wissen der Welt gedanklich zu erobern.
3) Haben Sie einen praktischer Tipp für ihre Zielgruppe, wie man selber nachhaltig handeln kann?
Ja, geht mit den Kindern in die Natur, verbindet Geschichten mit sinnlichen Erfahrungen und bringt den Menschen bei, rücksichtsvoll und vorsichtig mit der Welt umzugehen. Menschen, Tiere, Pflanzen, Bücher, Gegenstände: Alles ist gemeint. Die Geschichten sind dabei wichtig, denn sie setzten Kraft und Motivation frei. Jedes Kind kennt den „Maulwurf Grabowski“, jedes Kind solidarisiert sich mit ihm, bewertet die Geschichte und wird vielleicht den großen Zusammenhang „Natur und Umwelt“ darüber verstehen lernen.